Donnerstag, 15. Dezember 2022

Cancel Culture

Argumentierst du noch oder cancelst du schon? Von Anna Lenja Epp (Jg. 13)


TRIGGERWARNUNG RASSISMUS, INTERFEINDLICHKEIT, TRANSFEINDLICHKEIT

Es war Dienstag, der 11. Oktober, in der ersten Doppelstunde. Statt des regulären Geschichtsunterrichts gab es an diesem Tag einen Vortrag des Zeitzeugen Manfred Casper, der über seine Jugend in der DDR sprechen sollte. Etwa 90 Minuten tat er das auch. Er war ein guter Redner, berichtete anschaulich über seine Erfahrungen. Die Stunde neigte sich dem Ende zu, was er aufgrund des fehlenden Klingelns jedoch nicht bemerkte. Zum Abschluss seines Vortrags mahnte er die anwesenden Schüler*innen des 13. Jahrgangs, sich für die Bewahrung ihrer Freiheit einzusetzen. Soweit so gut.

Hierzu nannte er allerdings noch zwei Beispiele:

Das erste war die Neuauflage des Klassikers von Karl May – Winnetou. Herr Casper erzählte, wie dieses Buch in seiner Schulzeit konfisziert wurde, ihm aber von einem sympathischen Lehrer wieder zurückgegeben wurde, nachdem dieser es selbst gelesen hatte. Daraus schlussfolgernd hielt Herr Casper es für falsch, dass der Ravensburger Verlag dieses Buch nicht weiter verkaufen wollte. Er meinte, er sage nicht, dass alles, was darin stehe, richtig sei, allerdings solle sich doch jeder ein eigenes Bild vom Inhalt machen. Dabei erweckte er den Eindruck, als seien die Menschen, die über die Gräueltaten des Kolonialismus aufklären möchten, jene, die die Geschichte nach ihrem eigenen Weltbild umdeuteten und anderen diesbezüglich Vorschriften machen wollten.

Herrn Caspers zweites Beispiel bezog sich auf den abgesagten Vortrag Marie-Luise Vollbrechts an der Humboldt-Universität. Ihre Behauptung, es gebe biologisch nur zwei Geschlechter, befand er ohne jegliche Begründung oder Beweisführung für richtig. Die Vorgehensweise der Humboldt-Universität, bei der laut ihm Vollbrecht unter dem Vorwand, sie schützen zu wollen, am Vortragen gehindert würde, verglich er mit der sogenannten „Schutzhaft“ im Nationalsozialismus.

Er entfernte sich dabei weit von seinem eigentlichen Thema und nutzte die ihm gebotene Bühne für rassistische, inter- und transfeindliche Äußerungen. Auch wenn er den Begriff „Cancel Culture“ nicht verwendete, so bediente er sich dennoch derselben Narrative.

Doch was soll das eigentlich sein? In einem Artikel zum erwähnten Vortrag an der Humboldt-Universität definiert die „Neue Zürcher Zeitung“ Cancel Culture folgendermaßen:

„Der Begriff beschreibt den Versuch, Personen unsichtbar zu machen, die Meinungen vertreten, welche vom tatsächlichen – oder vermeintlichen – Konsens in Wissenschaft und Gesellschaft abweichen. Aktivisten versuchen dann, die Vertreter dieser Meinungen öffentlich zu diskreditieren. Das Ziel ist dabei fast immer das gleiche: Ihnen soll die öffentliche Plattform entzogen werden.“1

Wenn man dieser Definition glaubt, ist Cancel Culture eine echte Bedrohung für die Meinungsfreiheit. Das wäre schlimm. Aber ist es der Fall?

Bei dem beschriebenen Ereignis geht es um Marie-Luise Vollbrecht, die, wie zuvor schon erwähnt, an der Humboldt-Universität einen Vortrag mit dem Titel „Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt“ halten wollte. Anlass war die „Lange Nacht der Wissenschaften“, bei der sich Universitäten für Besucher*innen öffnen und so für sich werben. Da im Vorfeld Proteste gegen den Vortrag und die darin enthaltene Queerfeindlichkeit angekündigt wurden, entschied sich die Universität dazu, diesen abzusagen beziehungsweise zu vertagen. Damit sollte laut der NZZ verhindert werden, dass die diesbezügliche Diskussion die gesamte Veranstaltung überschatte.2

Die Taz berichtet hingegen auch von angeblichen Sicherheitsbedenken, die die Humboldt Universität aufgrund von angekündigten Protesten geäußert habe.3

In dieser Vorgehensweise sehen die selbsternannten Ritter*innen im Kampf gegen die Cancel Culture einen Beweis für eine eingeschränkte Meinungsfreiheit, im Fall von Herrn Casper sogar einen Anlass für einen Nazivergleich. Das wäre vielleicht noch im Entferntesten vertretbar (also bis auf den Nazivergleich, der ist einfach nur bescheuert und geschichtsvergessen), wenn Marie-Luise Vollbrecht denn tatsächlich lediglich ihre Meinung zu irgendeinem Thema hätte vertreten wollen. Was ihre Unterstützer*innen dabei aber vergessen: Hass ist keine Meinung – und nichts Anderes ist Queerfeindlichkeit.

Vollbrecht hat nicht bloß eine Meinung, sie verbreitet Diskriminierung, noch dazu unter dem Deckmantel der Wissenschaft. Die Taz betont, dass es seitens der Protestierenden große Zweifel gegeben habe, ob Vollbrecht als Meeresbiologin überhaupt die Qualifikation besäße, einen wissenschaftlichen Vortrag über das Thema Transidentität zu halten. Dass die Universität daraus ein Sicherheitsrisiko ableite, verschiebe den Kernpunkt der Debatte.4

Denn ja, es gilt in Deutschland die Meinungsfreiheit und die ist auch auf jeden Fall schützenswert. Demokratie braucht verschiedene Meinungen und Auseinandersetzungen über diese. Doch Demokratie braucht keinen Hass, niemand braucht den. Die eigene Freiheit endet hier wie bei vielen anderen Beispielen da, wo die Freiheit anderer verletzt wird. In diesem Punkt gibt es Grenzen und das ist gut so. Menschen können alles sagen, doch manchmal sollten sie es mit Rücksicht auf andere sein lassen. Freiheit bedeutet nicht, dass ich alles tun kann, was ich will, sondern, dass ich tun kann, was ich will, solange ich keinem anderen Menschen schade.

Das ist ein wichtiger Unterschied, wenn es darum geht, Vorfälle wie jenen an der Humboldt-Universität richtig zu beurteilen. Bei wissenschaftlichen Vorträgen sollte die Wissenschaft im Vordergrund stehen – in diesem Fall der aktuelle Stand der Geschlechterforschung.5 Und „wissenschaftlicher Konsens [ist], dass die5 so genannten Geschlechtschromosomen XX und XY weder das äußere Geschlecht noch die geschlechtliche Selbstwahrnehmung eines Menschen eindeutig festlegen.“6
Vollbrecht hat damit nicht einfach nur ihre eigene Freiheit ausgelebt, sie hat die von anderen eingeschränkt. Deshalb ist dieser Vortrag nicht in Ordnung. Nicht weil anderen Menschen ihre Meinung nicht gefallen würde, sondern weil sie diese diskriminiert. Wir sollten Meinungen austauschen können, ohne Hass zu verbreiten Denn man kann über vieles Streiten, aber eben nicht über alles. Wenn man sich nicht einmal auf die Grundsätze einigen kann, dann ist eine konstruktive Auseinandersetzung unmöglich. Diese Grundsätze sollten Diskriminierung ausschließen und Fakten nicht zur Diskussion stellen. „Biologische Prozesse sind Fakten – die Label, die wir darauf kleben, nicht,“ fasst es die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen in der
Berliner Zeitung zusammen.7

Ähnlich steht es bei Karl May. Seine Geschichte von Winnetou hat nichts mit der tatsächlichen Lebensrealität von Indigenen zu tun – im Gegenteil: Sie ist voll von Stereotypen. Genau das scheint auch der Ravensburger Verlag verstanden zu haben. „Angesichts der geschichtlichen Wirklichkeit, der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, wird hier ein romantisierendes Bild mit vielen Klischees gezeichnet [...]. Vor diesem Hintergrund wollen wir als Verlag keine verharmlosenden Klischees wiederholen und verbreiten,“ wird er in der Tagesschau zitiert.6 Leider kam diese Einsicht etwas spät und zwar erst nach der Veröffentlichung des Buches zum aktuellen Winnetou-Film, das wieder zurückgezogen wurde. Grund dafür war unter anderem der Shitstorm, den die bereits erwähnten Stereotype auslösten. Verfechter*innen der Cancel Culture sehen hierin mal wieder den Versuch, ihnen den Mund zu verbieten, und Herr Casper fühlte sich an seine Jugend in der DDR erinnert. Wie können diese woken Leute im Internet es nur wagen, frei ihre Meinung kundzutun und mit Argumenten einen Verlag davon zu überzeugen, dass ein rassistisches Buch keine gute Idee ist?

Ihr merkt, nur weil ein Verlag entscheidet, ein rassistisches Buch weniger zu verlegen, heißt das nicht, dass Zustände wie damals in der DDR herrschen.

Und ja, Winnetou ist eine fiktionale Geschichte und wir wissen alle, dass die darin beschriebene Handlung nicht wirklich passiert. Doch auch Fiktionen sollten keine Diskriminierung verbreiten – aber das tut ein Buch, wenn es Klischees über real existierende Menschen beinhaltet, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Auch das Argument, Winnetou solle zur Auseinandersetzung mit eben diesem Thema anregen, ist sehr fadenscheinig, wenn man bedenkt, dass sich das vom Ravensburger Verlag zurückgezogene Buch an Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren richtet. Was denkt ihr, wie viele Kinder hätten wohl das Buch gelesen und sich dann gesagt „Das ist ja total unrealistisch! Ich recherchiere jetzt zu Kolonialismus und der Diskriminierung indigener Bevölkerung!“?

Es kann ja sein, dass viele Menschen mit Winnetou glückliche Kindheitserinnerungen verbinden, wie Herr Casper es tut. Dennoch sollte sie dies nicht davon abhalten, auch andere Assoziationen mit dieser Geschichte zuzulassen und denen zuzuhören, die Kritik daran äußern. Denn auch, wenn sie als Kind nicht in der Lage waren, das beschriebene Geschehen angemessen zu reflektieren, so tragen sie nun im Erwachsenenalter die Verantwortung dafür.

Damit zurück zu Herrn Casper und seinem fragwürdigen Auftritt. Als Autor des Buches „Vom Wachsen der Flügel“, das auch in unserer Schulbibliothek zu finden ist, wurde er eingeladen. Bezahlt werden seine Vorträge von der „Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit“7, einer Stiftung, die der FDP nahesteht. „Mit unseren Veranstaltungen und Publikationen ermutigen wir Menschen, sich aktiv im politischen Geschehen einzumischen. [...] die Freiheit hat keine gute Konjunktur im Deutschland dieser Tage. Umso wichtiger ist es, für Freiheit zu werben und darum, die Verantwortung wahrzunehmen, die mit Freiheit einhergeht,“8 heißt es auf der Website der Stiftung.

Umso weniger verwunderlich scheint es, dass Herrn Caspers Vortrag mit einem – milde gesagt – vergleichbaren Statement endete. Er nutzte die Plattform für politische, aber vor allem diskriminierende Aussagen, und das ist nicht in Ordnung. Seine Meinung und politische Position hat in einem Vortrag vor einer Schulklasse nichts verloren.

Auch das ist wieder eine Meinung, und zwar meine. Nur halte ich keinen vermeintlich neutralen Vortrag und ich werde auch nicht von einer parteinahen Stiftung bezahlt.

Dass Herr Casper seine Meinung verbreiten konnte und auch weiterhin Vorträge an dieser Schule halten kann, wenn auch mit der Bitte, keine weiteren politischen Statements abzugeben, zeigt, dass eine Cancel Culture oder „Einschränkung der Freiheit“ nicht existiert, zumindest nicht für jene, die sich darüber beklagen.

Stattdessen scheint es fast so, dass der Vorwurf der Cancel Culture für viele Menschen bloß ein Weg ist, um sich gegenüber sämtlicher Kritik zu verschließen.


1 https://www.nzz.ch/international/transsexualitaet-humboldt-uni-verhindert-vortrag-von-biologin-ld.1691861
2 Ebd.
3 https://taz.de/Umstrittener-Gender-Vortrag-in-Berlin/!5868796/
4 https://taz.de/Transfeindlichkeit-an-Universitaet/!5864307
5 https://taz.de/Wissenschaftliche-Fakten-ueber-Geschlecht/!5862717 sowie
https://www.berliner-zeitung.de/open-source/vortrag-hu-berlin-geschlecht-neurowissenschaftlerin-zur-hu-das-ist-keine-cancel-culture-sondern-fortschritt-li.243461
6 https://www.youtube.com/watch?v=n7szGDphbhU
7 https://vomwachsenderfluegel.de
8 https://www.freiheit.org/de/ueber-die-stiftung


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