Wahrheit
und Unwahrheit. Diego Umaña Castro über falschen Idealismus in Kolumbien und überall
Ich habe
Recht, und du hast Unrecht. So hört sich der Umgang mit Wahrheiten heutzutage
an. Jeder hat seine Vorlieben und seine Absichten. Das scheinen die Grundbausteine
jeder Identität zu sein.
In
unserer pluralistischen Gesellschaft wird von allen gefordert, dass sie die
anderen tolerieren. Es macht zumindest den Anschein, als gelänge das
problemlos. Aber tatsächlich urteilen wir ständig über andere, aus reiner Bequemlichkeit.
Wir ordnen die Menschen, die vor unseren Augen ihr Dasein genießen, beim
Anblick ihrer Oberflächlichkeiten einer dazu passenden Gruppierung zu, fast
automatisch. Von Äußerlichkeiten schließen wir auf Absichten und Vorlieben. Der
Mensch wird so zu einer Ansammlung von Vorstellungen.
Mir
scheint aber, als gäbe es mehrere Spiegelungen unseres Selbst, und zwar bei
jedem Menschen, mit dem wir Kontakt haben. Keine stimmt mit den anderen
überein. Und das Bild, das wir von dem Menschen vor uns haben, wird nie
übereinstimmen mit ihm selbst, nie wird seine Vergangenheit, Zukunft, werden
seine Träume und Absichten gänzlich zum Ausdruck kommen – durch unsere
Wahrnehmung von ihm.
So kommt
es im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen zu Auseinandersetzungen. Warum?
Auseinandersetzungen im Allgemeinen sind auf eine Gegensätzlichkeit
zurückzuführen. Zwei Dinge, die sich widersprechen, könnten durch eine Mediation
zu einem Ergebnis führen, das beide Parteien zufrieden stellt. Aber wer hat
Zeit für eine Mediation im Alltag? Niemand.
Ein
Seitenblick in die Politik. Die westeuropäische Politik kennt wenig offene
Auseinandersetzungen über Interna, außer vielleicht über komische
Bahnhofsprojekte wie Stuttgart 21, oder es gibt Leute, die sich darüber ärgern,
das ausländischen Geheimdienste sie ausspionieren. Aber wie naiv muss man sein,
um sich nicht vorstellen zu können, dass wir in dieser kaputten Gesellschaft
ständig überwacht werden? An dem Tag, an dem wir angefangen haben, mehr Zeit im
Internet zu verbringen als draußen unter dem schönen blauen Himmel, haben wir
auf unsere Privatsphäre verzichtet.
Um die
Problematik einer Auseinandersetzung zu erläutern, eignet sich das
politische Geschehen in Westeuropa nicht. Begeben wir uns also zu Orten, wo
politische Konflikte und keine langweiligen Skandale und Geldkrisen noch auf
altmodische Weise gelöst werden, mit Blei.
In
meinem Heimatland Kolumbien geht seit vierzig Jahren ein blutiger Bürgerkrieg
vor sich. Linksextremistische und rechtsextremistische Guerillas tun so, als
seien sie die Verkörperung des Viet Cong auf südamerikanischen Territorium. Die
FARC Guerilla hat nicht mitbekommen, dass es die Sowjetunion nicht mehr gibt
und dass der Kommunismus schon einmal die Chance hatte, um zu zeigen, welche
politische Erfolge er erreichen kann.
Wenn
bewaffnete Menschen sich in den Regenwald zurückziehen und ständig aus einer
schlecht übersetzten Version von Karl Marx’ „Das Kapital“ vorgelesen bekommen,
kann nichts Vernünftiges dabei herauskommen. Die Gegenspieler dieser
kommunistischen Freiheitskämpfer – wir alle wissen was Kommunisten machen, wenn
sie zu viel Macht bekommen; persönliche Freiheit steht dabei nicht im
Vordergrund – sind bezahlten Milizen, die einer faschistische Gehirnwäsche zum
Opfer gefallen sind. Was diese Menschen mit Kettensägen machen, endet in einem
Massengrab.
Die
traditionelle politische Schicht, die sich eigentlich auf keine Seite des
Konflikts stellen dürfte, um eine Mediation zu ermöglichen, hat es dennoch
gemacht. Das konservative Militär kooperiert mit den Milizen. Verbündete gegen
den Kommunisten. Seit vier Jahre hat sich die Situation teilweise verbessert,
zumindest ist jetzt die politische Schicht ebenfalls polarisiert: zwischen
denen, die keinen Bürgerkrieg mehr wollen, und denen, die davon profitieren.
Ein Bürgerkrieg ist ein ausgezeichneter Nährboden für Drogen- und Waffenhandel.
Diese Auseinandersetzungen sind darauf zurückzuführen, dass manche Menschen
glauben, es besser zu wissen als andere. Zum Bespiel in der Form eines
politischen Ideals. Idealisten sind konfliktschaffende Menschen.
Was für
eine Folgerung lässt sich daraus für unser Alltagsleben ableiten? Wie können
wir Konflikte vermeiden? Eigentlich ganz einfach: Wir dürfen uns nicht durch
die von uns vorgestellten Ansichten der Anderen oder unsere eigenen zu
Idealisten machen lassen.
Am Ende
weiß keiner genau, was das Beste ist. Für ein Problem gibt es unzähligen
Sichtweisen. Sei es der Musikgeschmack, sei es das Planen eines Treffen zur
einer bestimmten Uhrzeit oder das politische Geschehen eines Landes. Wir müssen
uns die Zeit lassen, um die Absichten anderer zu betrachten. Die anderen
Menschen haben auch ihre Gründe, warum sie an ihre Vorstellungen glauben. Um
einen Kompromiss zu ermöglichen, müssen ihre Gründe in Betracht gezogen werden.
Das erfordert seine Zeit, aber am Ende werden keine langen und unnötigen
Whatsapp-Debatten geführt, und keine Massengräber müssen ausgegraben werden.
- Unser Autor Diego Umaña Castro gehört zur Abiturientia 2014. Er stammt aus Kolumbien. 2008 kam Diego nach
Deutschland und ist seitdem auch WG-Schüler. Er plant, Chemie und
danach Philosophie zu studieren. Dann will er in seinem Heimatland
politisch aktiv werden. Sein Denken ist u. a. beeinflusst von den
französichen Existentialisten Jean-Paul Sartre und Albert Camus sowie
Robert Musils Roman „Der Mann
ohne Eigenschaften“. Außerdem ist Diego Anhänger der Kagyü-Linie des tibetischen Buddhismus.