Olchis malen ist (nicht) schwer. Valea Elß berichtet über ihr Betriebspraktikum an der Grundschule Klint
Mittlerweile war die Klassenlehrerin
der E5 eingetroffen und besprach mit mir den heutigen Tagesablauf.
Erst Mathe, dann Kunst und dann Deutsch. Zwischendurch eine Hof- und
eine Frühstückspause. Das versprach einen spannenden ersten Tag. Um
7:50 Uhr trafen dann die ersten Kinder ein. Alle wurden herzlich von
ihrer Lehrerin begrüßt und ich staunte, wie gutgelaunt und offen
sie sofort von ihren Ferienerlebnissen zu erzählen begannen. Bevor
es an den richtigen Unterricht ging, war dies der erste
Programmpunkt. Wir versammelten uns im Sitzkreis und jedes Kind
erzählte begeistert von ihren Herbstferien. Die ausgelassene
Stimmung war einfach beeindruckend und machte auch mir gleich gute
Laune. Nachdem wir den Geburtstag einer siebenjährigen Schülerin
nachgefeiert hatten, ein Griff in die Überraschungskiste und
Geburtstagsständchen inklusive, ging es dann doch an den „richtigen“
Unterricht. In den Herbstferien hatte ich mir viele Gedanken darüber
gemacht, wie ich vor den Kindern auftreten sollte und hatte ein
bisschen Sorge, ich könnte zu streng oder die Kinder könnten mir
gegenüber sehr verschlossen sein. Doch meine Sorgen waren völlig
unbegründet. Während ich erwartungsvoll und neugierig zwischen den
Gruppentischen entlang schlenderte und hier und da bei den Aufgaben
half, erzählten mir die Kinder ganz von allein von ihren Familien,
Haustieren und Lieblingsbeschäftigungen, sodass die Distanz zwischen
uns schon nach den ersten fünf Minuten überwunden war. Längst
hatte ich die Klasse in mein Herz geschlossen und war mir sicher,
dass die folgenden drei Wochen einfach super werden würden.
Um neun Uhr war es Zeit für die
Frühstückspause. Die Kinder räumten ihre Plätze auf und holten
hungrig die von ihren Eltern liebevoll gepackten Brotboxen heraus. In
den nächsten zwanzig Minuten herrschte eine Art gefräßiges
Schweigen, während die Lehrerin aus dem Buch „Die Olchis im Zoo“
vorlas. Auch ich lauschte gespannt der Geschichte und schwelgte
zeitgleich in Erinnerungen aus meiner Grundschulzeit. „So, und
jetzt wird das Frühstück weggepackt!“, hieß es dann nach einer
Weile und die Kinder räumten bereitwillig die leeren Dosen in die
Schultasche zurück. „Heute ist es unsere Aufgabe, einen Olchi zu
zeichnen“, kündigte die Lehrerin an, die Anleitung zum Zeichnen
schon in der Hand. „Zuerst malst du einen runden Kopf. Dann kommen
die drahtigen Haare dran, Mund, Augen und natürlich die große
Knubbelnase.“ Während sie erklärte, hatte die Lehrerin selbst
einen Olchi an die Tafel gezeichnet, und sie hatte ihn, wie ich
erstaunt feststellte, ziemlich gut getroffen. Nach dem Kopf sollten
die Kinder auch den Körper und die Umgebung des Olchis zeichnen.
Dabei konnten sie frei entscheiden, welchen Olchi sie malen wollten.
Olchi-Mama, Olchi-Papa, eines der Olchi-Kinder, das Olchi-Baby oder
doch die Olchi-Oma? Begeistert holten die Schüler ihren Zeichenblock
und ihre Buntstifte und machten sich an die Arbeit. Ich ging derweil
von Tisch zu Tisch und half, wo ich konnte. Plötzlich tippte mir
einer der Erstklässler schüchtern auf den Arm. „Kannst du mir
eine Nase zeichnen?“, fragte er und deutete auf sein Blatt, auf
welches er schon einen ovalen Olchi-Kopf gezeichnet hatte.
„Natürlich“, erwiderte ich und schnappte mir seinen Bleistift.
Doch insgeheim machte sich in mir langsam Verzweiflung breit.
Zeichnen gehört nun einmal überhaupt nicht zu meinen Stärken und
ich fürchtete, den Ansprüchen des Sechsjährigen einfach nicht
gerecht werden zu können.
Komm schon, so schwer kann das doch
nicht sein, versuchte
ich mich zu beruhigen. Es
ist doch nur eine Olchi-Nase. Zögerlich
setzte ich den Stift auf das Blatt und zeichnete, zunächst nur mit
ziemlich blassem Strich, eine schöne, große Knubbelnase.
Triumphierend richtete ich mich auf. Das sah doch gar nicht mal so
schlecht aus. „Gut so?“, fragte ich den Kleinen und er nickte
zufrieden. Also setzte ich meinen Weg durch die Klasse fort,
glücklich, dass ich zumindest eine Olchi-Nase doch ganz gut
getroffen hatte. Das
wäre doch mal ein Projekt für unseren Kunstunterricht!, überlegte
ich, während ich mich an einen der Gruppentische setzte, um mich ein
wenig mit den Kindern zu unterhalten. Die meisten waren mittlerweile
beim Olchi-Körper angelangt. Ihre Olchis bekamen nun bunte T-Shirts
und Hosen sowie einen kreativ gestalteten Hintergrund. „Was hast du
denn für einen Olchi gezeichnet?“, fragte ich das Mädchen neben
mir neugierig. „Das Olchi-Kind“, antwortete sie und erzählte mir
auch gleich von dem geplanten Hintergrund. Eine kleine Weile blieb
ich an ihrem Tisch und hörte mir Geschichten über ihre kleinen
Geschwister und ihre zahlreichen Haustiere an, bevor ich mich zu
einem Erstklässlertisch hinzugesellte. „Malt ihr auch die
Olchi-Kinder?“, fragte ich die Schülerin neben mir. „Nein, mein
Olchi trägt doch ein gestreiftes Kleid, das ist Olchi-Oma“,
korrigierte sie mich in einem so ernsten Ton, wie ich mich mit meinen
Freunden vielleicht über die passende Potenzfunktion in einer
Matheaufgabe unterhalten hätte. Im Allgemeinen war ich sehr
erstaunt, wie ernst die Kinder der Olchi-Aufgabe nachgingen und mir
wurde bewusst, dass auch meine Kindheit von ähnlichen Themen geprägt
gewesen war. Als Sechsjähriger interessiert man sich nicht für
Landtagswahlen oder die Globalisierung und auch nicht für die neuste
Mode oder die Trennung des Lieblingspromis. All das ist verschrieen
als „Erwachsenenkram“ und taucht höchstens Zuhause im Gespräch
zwischen den Eltern oder älteren Geschwistern auf. Stattdessen ist
die Gestaltung eine Olchis eine sehr ernstzunehmende Aufgabe, die
Sammelsticker von Lidl sind der größte Schatz in der Schultasche
und es ist überhaupt nicht egal, wer das Wettrennen zum
Klassenzimmer gewinnt. Diese Dinge, so wurde mir bewusst, musste ich
irgendwann in den letzten Jahren einfach vergessen haben. Vor meinem
Praktikum hatte ich lange nicht mehr an das Sams oder an die Olchis
gedacht und über Streitereien über den besten Platz im Sitzkreis
waren meine Freunde und ich natürlich auch längst hinaus. Vor allem
der erste Tag meines Praktikums hat die Erinnerungen an all diese
Dinge in mir wachgerufen. Im Leben eines Grundschülers geht es nicht
um Klausuren, Geld, ein erfolgreiches Leben, die modernste Kleidung,
Anerkennung. Stattdessen kann das Zeichnen eines Olchis eine
unglaublich wichtige Aufgabe sein und ein falsch gesetzter Strich
oder ein leicht eingerissenes Papier ein großes Problem. Ohne mein
Praktikum hätte ich mich niemals daran erinnert.
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