Freitag, 16. November 2018

Praktikumsbericht 2018


Olchis malen ist (nicht) schwer. Valea Elß berichtet über ihr Betriebspraktikum an der Grundschule Klint

Nach zwei erholsamen Ferienwochen war endlich mein erster Praktikumstag gekommen. Wegen meiner Busverbindung war ich eine der ersten, die der freundliche Hausmeister der Grundschule Klint am frühen Morgen begrüßen durfte. Neugierig, was mich in den nächsten drei Wochen als „Lehrerin“ erwarten würde, besah ich mir den noch leeren Klassenraum der E5, eine der sechs Eingangsstufen der Schule, in welcher Erst- und Zweitklässler gemeinsam unterrichtet werden. Im Gegensatz zu unseren Klassenräumen glich dieser hier noch einer Art kleinem Spielparadies. Neben der Tafel, den Tischen und den Stühlen gab es hier eine gemütliche Sitzecke, Spiele, Bilderbücher. - Es war genau so, wie man sich den fließenden Übergang zwischen Kindergarten und Schule vorstellen würde. Wie ich nämlich in den nächsten Tagen mehrmals erfahren sollte, sind Kompetenzen wie Stillsitzen, Zuhören und Lernen für die quirligen Sechsjährigen gar nicht so selbstverständlich wie für uns. Deshalb werden, nachdem fleißig gerechnet, gelesen und buchstabiert wurde, regelmäßig auch Spiel- und Ruhepausen eingelegt, auch während der Unterrichtszeiten. Lächelnd erkannte ich außerdem einige Hefte und Bücher aus meiner eigenen Grundschulzeit wieder. Das Tinto-Haus prangte im Großformat über dem Sitzkreis und in den Fächern der Schüler fand ich das kleine Lies-mal-Heft, in welchem ich früher immer so gerne gearbeitet hatte. Auf einer Ablage über dem Lehrertisch thronten zwei Vorlesebücher. Eines davon war das Sams, über dessen Geschichte auch ich als Grundschüler immer sehr lachen musste. Das andere Buch erkannte ich ebenfalls sofort: Die grünen Männchen mit der Knubbelnase waren einfach unverkennbar. Der Titel des Buches: „Die Olchis im Zoo“. Die Olchis. Süß! Auch wenn ich mit sechs Jahren lieber „Das magische Baumhaus“ oder „Das wilde Pack“ gelesen habe, um einige Olchi-Bücher bin auch ich in meiner Grundschulzeit nicht herumgekommen. Doch wie ich später erfahren sollte, sind die ständig fluchenden, menschenähnlichen Wesen, die auf einer Müllhalde leben und in ihren Geschichten für Chaos und zahlreiche Lacher sorgen, bei der Klasse ganz besonders beliebt.
Mittlerweile war die Klassenlehrerin der E5 eingetroffen und besprach mit mir den heutigen Tagesablauf. Erst Mathe, dann Kunst und dann Deutsch. Zwischendurch eine Hof- und eine Frühstückspause. Das versprach einen spannenden ersten Tag. Um 7:50 Uhr trafen dann die ersten Kinder ein. Alle wurden herzlich von ihrer Lehrerin begrüßt und ich staunte, wie gutgelaunt und offen sie sofort von ihren Ferienerlebnissen zu erzählen begannen. Bevor es an den richtigen Unterricht ging, war dies der erste Programmpunkt. Wir versammelten uns im Sitzkreis und jedes Kind erzählte begeistert von ihren Herbstferien. Die ausgelassene Stimmung war einfach beeindruckend und machte auch mir gleich gute Laune. Nachdem wir den Geburtstag einer siebenjährigen Schülerin nachgefeiert hatten, ein Griff in die Überraschungskiste und Geburtstagsständchen inklusive, ging es dann doch an den „richtigen“ Unterricht. In den Herbstferien hatte ich mir viele Gedanken darüber gemacht, wie ich vor den Kindern auftreten sollte und hatte ein bisschen Sorge, ich könnte zu streng oder die Kinder könnten mir gegenüber sehr verschlossen sein. Doch meine Sorgen waren völlig unbegründet. Während ich erwartungsvoll und neugierig zwischen den Gruppentischen entlang schlenderte und hier und da bei den Aufgaben half, erzählten mir die Kinder ganz von allein von ihren Familien, Haustieren und Lieblingsbeschäftigungen, sodass die Distanz zwischen uns schon nach den ersten fünf Minuten überwunden war. Längst hatte ich die Klasse in mein Herz geschlossen und war mir sicher, dass die folgenden drei Wochen einfach super werden würden.
Um neun Uhr war es Zeit für die Frühstückspause. Die Kinder räumten ihre Plätze auf und holten hungrig die von ihren Eltern liebevoll gepackten Brotboxen heraus. In den nächsten zwanzig Minuten herrschte eine Art gefräßiges Schweigen, während die Lehrerin aus dem Buch „Die Olchis im Zoo“ vorlas. Auch ich lauschte gespannt der Geschichte und schwelgte zeitgleich in Erinnerungen aus meiner Grundschulzeit. „So, und jetzt wird das Frühstück weggepackt!“, hieß es dann nach einer Weile und die Kinder räumten bereitwillig die leeren Dosen in die Schultasche zurück. „Heute ist es unsere Aufgabe, einen Olchi zu zeichnen“, kündigte die Lehrerin an, die Anleitung zum Zeichnen schon in der Hand. „Zuerst malst du einen runden Kopf. Dann kommen die drahtigen Haare dran, Mund, Augen und natürlich die große Knubbelnase.“ Während sie erklärte, hatte die Lehrerin selbst einen Olchi an die Tafel gezeichnet, und sie hatte ihn, wie ich erstaunt feststellte, ziemlich gut getroffen. Nach dem Kopf sollten die Kinder auch den Körper und die Umgebung des Olchis zeichnen. Dabei konnten sie frei entscheiden, welchen Olchi sie malen wollten. Olchi-Mama, Olchi-Papa, eines der Olchi-Kinder, das Olchi-Baby oder doch die Olchi-Oma? Begeistert holten die Schüler ihren Zeichenblock und ihre Buntstifte und machten sich an die Arbeit. Ich ging derweil von Tisch zu Tisch und half, wo ich konnte. Plötzlich tippte mir einer der Erstklässler schüchtern auf den Arm. „Kannst du mir eine Nase zeichnen?“, fragte er und deutete auf sein Blatt, auf welches er schon einen ovalen Olchi-Kopf gezeichnet hatte. „Natürlich“, erwiderte ich und schnappte mir seinen Bleistift. Doch insgeheim machte sich in mir langsam Verzweiflung breit. Zeichnen gehört nun einmal überhaupt nicht zu meinen Stärken und ich fürchtete, den Ansprüchen des Sechsjährigen einfach nicht gerecht werden zu können.
Komm schon, so schwer kann das doch nicht sein, versuchte ich mich zu beruhigen. Es ist doch nur eine Olchi-Nase. Zögerlich setzte ich den Stift auf das Blatt und zeichnete, zunächst nur mit ziemlich blassem Strich, eine schöne, große Knubbelnase. Triumphierend richtete ich mich auf. Das sah doch gar nicht mal so schlecht aus. „Gut so?“, fragte ich den Kleinen und er nickte zufrieden. Also setzte ich meinen Weg durch die Klasse fort, glücklich, dass ich zumindest eine Olchi-Nase doch ganz gut getroffen hatte. Das wäre doch mal ein Projekt für unseren Kunstunterricht!, überlegte ich, während ich mich an einen der Gruppentische setzte, um mich ein wenig mit den Kindern zu unterhalten. Die meisten waren mittlerweile beim Olchi-Körper angelangt. Ihre Olchis bekamen nun bunte T-Shirts und Hosen sowie einen kreativ gestalteten Hintergrund. „Was hast du denn für einen Olchi gezeichnet?“, fragte ich das Mädchen neben mir neugierig. „Das Olchi-Kind“, antwortete sie und erzählte mir auch gleich von dem geplanten Hintergrund. Eine kleine Weile blieb ich an ihrem Tisch und hörte mir Geschichten über ihre kleinen Geschwister und ihre zahlreichen Haustiere an, bevor ich mich zu einem Erstklässlertisch hinzugesellte. „Malt ihr auch die Olchi-Kinder?“, fragte ich die Schülerin neben mir. „Nein, mein Olchi trägt doch ein gestreiftes Kleid, das ist Olchi-Oma“, korrigierte sie mich in einem so ernsten Ton, wie ich mich mit meinen Freunden vielleicht über die passende Potenzfunktion in einer Matheaufgabe unterhalten hätte. Im Allgemeinen war ich sehr erstaunt, wie ernst die Kinder der Olchi-Aufgabe nachgingen und mir wurde bewusst, dass auch meine Kindheit von ähnlichen Themen geprägt gewesen war. Als Sechsjähriger interessiert man sich nicht für Landtagswahlen oder die Globalisierung und auch nicht für die neuste Mode oder die Trennung des Lieblingspromis. All das ist verschrieen als „Erwachsenenkram“ und taucht höchstens Zuhause im Gespräch zwischen den Eltern oder älteren Geschwistern auf. Stattdessen ist die Gestaltung eine Olchis eine sehr ernstzunehmende Aufgabe, die Sammelsticker von Lidl sind der größte Schatz in der Schultasche und es ist überhaupt nicht egal, wer das Wettrennen zum Klassenzimmer gewinnt. Diese Dinge, so wurde mir bewusst, musste ich irgendwann in den letzten Jahren einfach vergessen haben. Vor meinem Praktikum hatte ich lange nicht mehr an das Sams oder an die Olchis gedacht und über Streitereien über den besten Platz im Sitzkreis waren meine Freunde und ich natürlich auch längst hinaus. Vor allem der erste Tag meines Praktikums hat die Erinnerungen an all diese Dinge in mir wachgerufen. Im Leben eines Grundschülers geht es nicht um Klausuren, Geld, ein erfolgreiches Leben, die modernste Kleidung, Anerkennung. Stattdessen kann das Zeichnen eines Olchis eine unglaublich wichtige Aufgabe sein und ein falsch gesetzter Strich oder ein leicht eingerissenes Papier ein großes Problem. Ohne mein Praktikum hätte ich mich niemals daran erinnert.

Fotos: V. E.

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