Freitag, 10. Mai 2019

Essay: Altern

Altern – ein Grundrecht. Aus dem Fach Werte und Normen, 9. Jahrgang: ein Essay zur Frage „Ist es wünschenswert, äußerlich für immer jung zu bleiben?“ Von Iman Sibai.

Das Gemälde „Der Jungbrunnen“ von Lucas Cranach stammt aus dem Jahr 1546 und stellt einen riesigen Brunnen dar, welcher einst alte, von Männern herbeigekarrte Frauen verjüngen lässt, die sich nach dem Bad fein gekleidet gemeinsam mit Männern bei Speisen, Tänzen und Musik vergnügen. Aber warum wollten so viele Menschen für immer jung erscheinen? Ist es wirklich wünschenswert, das gesamte Leben in einer optisch immer wieder verjüngten, praktisch neuen Hülle zu verbringen?


Lucas Cranach d. Ä.: Der Jungbrunnen (1546), Ausschnitt.

Die spezielle Wirkung des Jungbrunnens zeigt, dass für die damalige Gesellschaft das Jungsein ein Schönheitsideal war und viele solch ein junges Aussehen anstrebten, wie zum Beispiel eine glatte, blasse Haut. Vermutlich hatten junge, schöne Frauen so einen gesellschaftlichen Vorteil und fanden leichter einen Lebenspartner.

Auch heutzutage lässt sich die Gesellschaft von jungen und „schönen“ oder künstlich verjüngten Models und Stars stark beeinflussen und nimmt sie sich zum Vorbild. Schönheitsideale der heutigen Zeit: Volle Lippen, dichtes, glänzendes Haar, straffe, reine Haut und ein schlanker, trainierter Körper. Nur so ist man perfekt und erfolgreich.

Je älter Menschen werden, umso stärker verändert sich der Körper. Falten, schlaffe Haut, graues, dünnes Haar. Wir werden unzufriedener mit uns selbst, zweifeln an uns, da wir die schönen Frauen und die gut durchtrainierten Männer auf Zeitschriften sehen – vergleichen uns mit den, in unseren Augen, perfekten Menschen dieser Welt und vergessen, dass auch sie Trauer, Sorgen, Schmerz und Selbstzweifel hinter ihrer Fassade verstecken. Also lösen wir unsere Probleme, indem wir unser Geld für Schönheits-OPs und Diäten ausgeben, nur um für die Außenwelt, die Gesellschaft, welche uns unter Druck setzt, jung und schön zu wirken. Perfekte Erscheinung, perfektes Leben.

Aber führen wir wirklich dieses perfekte Leben, wenn wir uns von der Welt durch Schönheitsideale und dieser ganz bestimmten Vorstellung quälen lassen? Wollen wir innerlich reifen und altern und äußerlich jung erscheinen? Ist es wirklich großartig, jung auszusehen bis man stirbt? Was wollen wir damit erreichen? Wir wollen glücklich und zufrieden mit unserem Aussehen sein, das wir von zweifelhaften Idealen ableiten. Je älter ein Mensch, desto schmerzhafter und anstrengender ist eine künstliche Verjüngung, desto tiefer fällt man, wenn die Wirkung nachlässt. Wir lassen uns zerstören, sowohl von den Menschen als auch von dem dauernden optischen Vergleich. Wir werden immer unzufriedener und sind gefangen in einem ewigen Teufelskreis.

Warum ist äußerliche Schönheit für uns Menschen so wichtig? Klar, jeder Mensch sollte auf ein gepflegtes Äußeres achten. Schönheit ist jedoch nur eine Maske. Auch wenn oft behauptet wird, man achte nicht auf das Aussehen, tun das immer noch viele, wenn auch unbewusst. Häufig sind „schönere“ Menschen viel erfolgreicher. Warum muss das so sein?

Was zählt, ist die innere Schönheit, die Persönlichkeit und eine positive Ausstrahlung. Was ist überhaupt so schlimm daran, „alt“ auszusehen, Falten zu haben? Vor allem Lach- und Denkfalten, die Lebensgeschichten erzählen und darauf hindeuten, lebenserfahren zu sein, ein schönes, manchmal trauriges, manchmal fröhliches Leben gehabt zu haben. Eben ein Mensch zu sein.

Überhaupt: Was ist mit Ärmeren oder Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung? Sind sie weniger schön? Bleibt ihnen Schönheit verwehrt, nur weil sie sich keine Operationen oder teure Mittel leisten können? Wer legt überhaupt fest, was „Schönsein“ ist? Fragen wir uns, warum wir einen Menschen „schön“ finden? Und finden wir ihn immer noch „schön“, wenn wir ihn besser kennengelernt haben? Sind ältere, künstlich aufgepumpte Menschen mit maskenhaften Gesichtern wirklich schön?

Sterben muss jeder, egal, wie er aussieht. Ist es nicht einfacher, sich von der Welt in einer alten, verbrauchten Hülle zu verabschieden? Dass wir alle altern und sterben, ist doch etwas, was uns alle gleich macht. Es ist wie ein Grundgesetz, der Tod behandelt uns alle gleich, egal wie wir aussehen und was wir erlebt haben. Niemand kann vor diesem Schritt fliehen. Sollten wir alle dann nicht auch das gleiche Recht haben, in Ruhe zu altern, ohne uns deswegen weniger wert fühlen zu müssen?

Ich bin der Meinung, dass es nicht wünschenswert ist, äußerlich für immer jung zu bleiben. Es ist entwürdigend, vor allem Frauen, wie im Gemälde von Lucas Cranach dargestellt, immer wieder in das perfekte, junge Schönheitsideal zu pressen. Im Endeffekt sollte zwar jeder mit seinem Körper das tun, was er für richtig hält. Man sollte sich aber immer die Frage stellen, ob man dies für sich oder für andere tue.

Wir sind Menschen, jeder mit einer eigenen, besonderen Identität, mit einem individuellen Charakter, mit Erfahrungen und wertvollen Erinnerungen. All das erzählt so viel mehr über uns, als das, was ein perfekter, verjüngter Körper allein jemals erzählen könnte.


Zeichnung: Iman Sibai
Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/Hauptseite


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