Dienstag, 21. März 2023

Essay

Heul doch, Boomer. Von Lenja Epp (Jg. 13).


Wir leben in einer besonderen Welt. Sie ist zum Teil schön und zum Teil schrecklich und alles dazwischen. Sie verändert sich stetig, sowohl in die richtige als auch in die falsche Richtung. Manchmal schneller als die Menschen, die in ihr wohnen. Was früher verpönt war, ist heute normal. Und was früher normal war, bekommt heute einen Shitstorm.
Wer findet es heutzutage noch unbedenklich, ohne Anschnallgurt im Auto zu sitzen und zu rauchen, während die Kinder auf der Rückbank schon ganz grün im Gesicht werden?
Wer hätte sich vor 50, 40 oder auch nur 30 Jahren Gedanken darüber gemacht, dass sich von der Anrede „Liebe Kollegen“ nicht alle angesprochen (oder besser: mit gemeint) fühlen könnten?

Die Welt verändert sich. Sie ist nicht mehr dieselbe wie die, in der einige aufgewachsen sind. Die Welt ist wahrlich kompliziert geworden.

Dabei tauchen immer wieder dieselben Fragen auf: Brauchen wir das alles? Brauchen wir all diese Veränderungen und neuen Erfindungen, all diesen Fortschritt? Ist es gut so, wie es ist oder war früher eben doch alles besser?
Haben wir uns verrannt?

Nein, das haben wir nicht. Denn viele der Veränderungen waren dringend notwendig. Wir brauchen sie, um in dieser Welt leben zu können. Wir werden diese Welt erben und wir passen sie uns nach unseren Bedürfnissen an. Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Ja, genau: Wie bei Pippi Langstrumpf. Wir sind in der Lage, von ihr zu lernen und gleichzeitig nicht zu vergessen, dass Pippi ein Rassismus-Problem hat.
Wir sind in der Lage, die Welt in ihrer vollkommenen Ambivalenz wahrzunehmen.

Wer wir sind? Keine Ahnung. Wir existieren, doch nicht als feste Gruppe. Wir werden von den Umständen in dieser Welt geprägt, doch wir sind keine vollständige Generation.
Aber eins ist klar: Es geht uns um Respekt. Er ist unsere Motivation, unser Ansporn, die Grundlage unseres Handelns.
Wir respektieren einander und versuchen, auf uns und andere Menschen achtzugeben. Wir haben es satt, alte Systeme aufrechtzuerhalten, die uns nichts bringen. Wir wollen Veränderung. Jetzt. Aber zack, zack.

Gleichzeitig wollen wir nichts überstürzen, nichts falsch machen, alles berücksichtigen, was wichtig ist. Wir wollen nicht nur Veränderung, um der Welt unseren Stempel aufdrücken zu können oder gegen unsere Eltern zu rebellieren. Wir brauchen Veränderung, um zu überleben. System change, not climate change. Smash the patriarchy, not the planet.
Wir brauchen Veränderung, damit das, was wichtig ist, so bleiben kann, wie es ist. „Weil jeder, der die Welt nicht ändern will, ihr Todesurteil unterschreibt,“ singen die Ärzte in „Deine Schuld.“*

Also los geht’s. Doch wo fangen wir an? Und wie werden diejenigen reagieren, die ihre Zeit damit verbracht haben, die Welt in ihren aktuellen Zustand zu bringen? Wie beseitigen wir festgefahrene Denkmuster und einzementierte Rollenbilder?

Wenn wir eine bessere Work-Life-Balance fordern, gelten wir als faul. Wenn wir gendern, sind wir übersensibel. Wenn wir auf Diskriminierung hinweisen, lautet der Vorwurf Cancel Culture. Sprüche wie „Das haben wir doch schon immer so gemacht“ oder „Das wird man ja wohl nochmal sagen dürfen“ hören wir dauernd. Doch wir können es nicht mehr hören. Jetzt reden wir. Wenn euch Respekt nicht in den Kram passt, dann Pech gehabt. Heul doch, alter weißer Mann. Heul doch, Boomer. Wir sind wütend.

Vieles, für das wir kämpfen, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Niemand sollte für die gleiche Arbeit schlechtere Bezahlung erhalten. Niemand sollte im Dunkeln mit einem unguten Gefühl und dem Schlüsselbund zwischen den Fingerknöcheln nach Hause laufen müssen. Niemand sollte im eigenen Zuhause, auf der Straße oder sonst irgendwo Gewalt fürchten müssen.
Diese Kämpfe werden seit Jahren, Jahrzehnten, teilweise seit Jahrhunderten geführt. Und ja, es gab Fortschritte, aber bei weitem noch nicht genügend.

Weil ihr uns nicht leiden könnt, habt ihr vielleicht das Gefühl, dass wir euch etwas wegnehmen wollen. Doch das wollen wir nicht. Wir wollen lediglich das, was uns ohnehin zusteht. Dass ihr es uns jahrhundertelang vorenthalten habt, macht es nicht zu eurem Eigentum.

„Frauen woll‘n dir
Macht entreißen
Klar, dass dich das stört
Doch ganz ehrlich:
Nichts davon
Hat je dir gehört,“**

schreibt Sarah Bosetti. Hört auf sie. Sie hat Recht.

Generell: Hört auf uns. Hört uns zu. Wir wissen, wovon wir reden, insbesondere, wenn es um uns selbst und um unsere Erfahrungen geht. Redet uns nicht klein. Haltet nicht für unwichtig, was wir zu sagen haben. Glaubt uns.
Nein, wir fühlen uns vom generischen Maskulin nicht „mit gemeint.“ Ja, die Klimakatastrophe ist ein reales Problem. Ja, Worte können Menschen verletzen.

Kapiert das endlich. Wir wissen, dass das viel ist. Aber wir wissen auch, dass das nicht zu viel verlangt ist. Man lernt nie aus; und ihr habt noch viel zu lernen. Dasselbe gilt auch für uns. Wir wollen uns verbessern. Wir wollen die Welt verändern, egal wie kitschig das klingt.
Wir haben schon einiges geschafft und noch viel liegt vor uns. Eine neue, andere, bessere Welt. Vielfalt, Pluralismus, Gerechtigkeit. Wir wollen mitbestimmen. Wir haben eine Stimme und geben auch denjenigen eine, die keine haben. Zusammen sind wir laut. Alle zusammen für eine bessere Zukunft, eine bessere Gegenwart.
Ihr habt die Welt zu dem gemacht, was sie ist, doch wie sie ist, kann sie nicht bleiben. Sie geht den Bach runter. Das können wir nicht zulassen. Deshalb lasst uns die Welt retten. Los geht’s.




* Urlaub, Farin: Deine Schuld, in: Geräusch, Hot Action Records, Berlin 2003.
**Bosetti, Sarah: „Ich hab nichts gegen Frauen, du Schlampe!“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2020, S. 912.



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