Pillut. Eine Geschichte aus der
Schulzeit von Ulrich Kuttig
Unsere Schule war eine kleine Dorfschule. Es gab insgesamt
vier Klassen: eine erste, eine zweite, eine dritte und eine vierte. Ich ging
damals in die 4. Klasse. Zum Klassenraum im ersten Stock führte eine lange
Treppe. Oben war ein kurzer Flur, an dessen linker Seite die Tür des
Klassenraums lag. An der gegenüberliegenden Seite gab es eine weitere Tür, die
aber stets verschlossen war. Da wir jeden Morgen davor warten mussten, hatten
wir uns öfter gefragt, was sich wohl dahinter verbarg und manche Mutige hatten
die Klinke heruntergedrückt, um festzustellen, dass sich die Tür nicht öffnen
ließ. Von den Lehrern hatten wir nur die Auskunft bekommen, dass sie für uns
verboten sei.
Ulrich Kuttig unterricht am WG Kunst und Deutsch. |
Eines Tages, nachdem unser Lehrer, Herr Lohmann, eine
Mathematikarbeit angekündigt und dann den Unterricht beendet hatte, blieb eine
kleine Gruppe von Schülern noch zusammen, weil wir uns nicht entschließen
konnten, nach Hause zu gehen. Als wir den Klassenraum verließen, fiel mir auf,
dass die Tür, die sonst immer verschlossen war, einen Spalt offen stand. Wir
versuchten durch den schmalen Türschlitz etwas von dem, was dahinter war, zu
erblicken und berieten, was wir tun sollten. Einer sah die Treppe hinunter in
den darunter liegenden Flur, doch von Herrn Lohmann war nichts zu sehen. So
öffneten wir langsam die Tür und gingen leise hindurch.
Als erstes fiel uns die überraschende
Helligkeit des Raumes auf und dann, dass er groß und ganz leer war. Ein
seltsamer Geruch traf uns. An den Fenstern hingen Gardinen, die halb
zurückgezogen waren. Ein Fenster war gekippt und die Gardine davor bewegte sich
ganz wenig. Kleine Spuren erinnerten noch an jemanden, der hier einmal gelebt
hatte: ein Zettel, der auf dem Boden lag, ein Staubflusen, ein verbogener
Nagel. Weitere Türen führten in andere Zimmer. Wir verstreuten uns, jeder
wählte einen anderen Weg durch die Wohnung, während ich noch am Fenster des
großen Raums stand und hinaus auf den Schulhof blickte. Ich sah von oben Herrn
Lohmann, wie er sich mit einer Mutter unterhielt. – Plötzlich hörte ich aus
einem der Zimmer einen Schrei. Wie die anderen auch lief ich hin, um zu sehen,
was passiert war.
Wir drängelten uns etwas an der Tür und erblickten einen
unserer Mitschüler, der mit blassem Gesicht in einem Badezimmer stand. Er
deutete mit seinem Finger auf die Duschwanne, die sich direkt gegenüber der Tür
befand. Genau in der Mitte der quadratischen weißen Wanne lag eine riesige
braune Kackwurst. Als ich sie sah, stieg mir auch schon ein betäubender Gestank
in die Nase. Wir flohen Hals über Kopf und sammelten uns an der Wohnungstür.
Obwohl wir eigentlich die Wohnung gar nicht hätten betreten dürfen, einigten
wir uns doch darauf, Herrn Lohmann von der Kackwurst zu erzählen. Wir rannten
die Treppe hinunter und trafen ihn auf dem Schulhof, wo er noch immer mit der
Mutter sprach.
„Herr Lohmann, Herr Lohmann, in der Wohnung neben unserer
Klasse liegt eine Kackwurst, mitten in der Dusche!“ – Herr Lohmann stutzte. Er
hatte offenbar keine Lust, sich die Kackwurst näher anzusehen. – „Wir kümmern
uns morgen darum“, meinte er schließlich und führte seine Unterhaltung mit der
Mutter fort.
Am nächsten Morgen waren wir aufgeregt, wir hatten schon
allen anderen von dem Erlebnis des Vortages erzählt. Und so fragte sich jeder,
was Herr Lohmann wegen der Wurst machen würde. Er aber betrat den Raum und
sagte lediglich: „Wir schreiben heute wie angekündigt eine Mathematikarbeit.
Wer möchte die Arbeitshefte verteilen?“ Wir sahen uns ratlos an: Er hatte das
Ereignis offenbar völlig vergessen! Schließlich meldete ich mich: „Herr
Lohmann, was ist denn mit der Kackwurst?“ Herr Lohmann setzte das gleiche
missmutige Gesicht auf, das er schon am Vortag gezeigt hatte und überlegte
wieder eine kurze Weile. Dann sagte er: „Wer macht das weg?“
Einige Sekunden herrschte Stille im Klassenraum. Verstohlen
sahen wir uns an. Die Aussicht, die Mathematikarbeit nicht mitschreiben zu
müssen, war verlockend, aber der Preis war mir zu hoch, denn mit Schrecken
hatte ich das Bild der Wurst vor Augen.
Plötzlich hörte man ein paar Tischreihen weiter ein „Ich!“.
Gemeldet hatte sich Andreas, den wir alle nur „Pillut“ nannten. Pillut saß am
Rand des Klassenraums. Seine blonden, strähnigen Haare waren lang, was damals
bei einem Jungen selten war. Das kam daher, weil seine Eltern sich nicht darum
kümmerten, ihrem Kind die Haare zu schneiden. Auch seine Kleidung wurde selten
gewaschen. Sie hatte graue Flecken und roch seltsam. Dennoch mochten wir ihn,
denn er war ein sanfter und hilfsbereiter Junge. Pillut hatte, soweit ich mich
erinnern konnte, in Mathe immer eine 6 geschrieben.
Herr Lohmann nickte nur in seine Richtung und so stand er
auf und verließ den Raum. Wir beugten uns über die Mathearbeit, dachten aber
immer wieder an Pillut und fragten uns, wie er mit der Kackwurst fertig werden
würde.
Er blieb weg bis zum Ende der Stunde, erst kurz vor dem Klingeln
betrat er wieder den Raum und setzte sich still auf seinen Platz. Wir gaben die
Mathearbeiten ab. Pillut blieb auf seinem Stuhl sitzen. Er blickte vor sich auf
den Tisch und sagte nichts. Und so wagten auch wir nicht zu fragen, wie er
diese Stunde verbracht hatte. Selbst Herr Lohmann sprach ihn nicht an.
Schon am nächsten Tag erhielten wir die bewerteten
Mathearbeiten zurück.
Dieses eine Mal bekam Pillut keine 6.
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