Montag, 7. Dezember 2015

Aus der Schulzeit I


Pillut. Eine Geschichte aus der Schulzeit von Ulrich Kuttig
Unsere Schule war eine kleine Dorfschule. Es gab insgesamt vier Klassen: eine erste, eine zweite, eine dritte und eine vierte. Ich ging damals in die 4. Klasse. Zum Klassenraum im ersten Stock führte eine lange Treppe. Oben war ein kurzer Flur, an dessen linker Seite die Tür des Klassenraums lag. An der gegenüberliegenden Seite gab es eine weitere Tür, die aber stets verschlossen war. Da wir jeden Morgen davor warten mussten, hatten wir uns öfter gefragt, was sich wohl dahinter verbarg und manche Mutige hatten die Klinke heruntergedrückt, um festzustellen, dass sich die Tür nicht öffnen ließ. Von den Lehrern hatten wir nur die Auskunft bekommen, dass sie für uns verboten sei.
Ulrich Kuttig unterricht am WG Kunst und Deutsch.
Eines Tages, nachdem unser Lehrer, Herr Lohmann, eine Mathematikarbeit angekündigt und dann den Unterricht beendet hatte, blieb eine kleine Gruppe von Schülern noch zusammen, weil wir uns nicht entschließen konnten, nach Hause zu gehen. Als wir den Klassenraum verließen, fiel mir auf, dass die Tür, die sonst immer verschlossen war, einen Spalt offen stand. Wir versuchten durch den schmalen Türschlitz etwas von dem, was dahinter war, zu erblicken und berieten, was wir tun sollten. Einer sah die Treppe hinunter in den darunter liegenden Flur, doch von Herrn Lohmann war nichts zu sehen. So öffneten wir langsam die Tür und gingen leise hindurch.
Als erstes fiel uns die überraschende Helligkeit des Raumes auf und dann, dass er groß und ganz leer war. Ein seltsamer Geruch traf uns. An den Fenstern hingen Gardinen, die halb zurückgezogen waren. Ein Fenster war gekippt und die Gardine davor bewegte sich ganz wenig. Kleine Spuren erinnerten noch an jemanden, der hier einmal gelebt hatte: ein Zettel, der auf dem Boden lag, ein Staubflusen, ein verbogener Nagel. Weitere Türen führten in andere Zimmer. Wir verstreuten uns, jeder wählte einen anderen Weg durch die Wohnung, während ich noch am Fenster des großen Raums stand und hinaus auf den Schulhof blickte. Ich sah von oben Herrn Lohmann, wie er sich mit einer Mutter unterhielt. – Plötzlich hörte ich aus einem der Zimmer einen Schrei. Wie die anderen auch lief ich hin, um zu sehen, was passiert war.
Wir drängelten uns etwas an der Tür und erblickten einen unserer Mitschüler, der mit blassem Gesicht in einem Badezimmer stand. Er deutete mit seinem Finger auf die Duschwanne, die sich direkt gegenüber der Tür befand. Genau in der Mitte der quadratischen weißen Wanne lag eine riesige braune Kackwurst. Als ich sie sah, stieg mir auch schon ein betäubender Gestank in die Nase. Wir flohen Hals über Kopf und sammelten uns an der Wohnungstür. Obwohl wir eigentlich die Wohnung gar nicht hätten betreten dürfen, einigten wir uns doch darauf, Herrn Lohmann von der Kackwurst zu erzählen. Wir rannten die Treppe hinunter und trafen ihn auf dem Schulhof, wo er noch immer mit der Mutter sprach.
„Herr Lohmann, Herr Lohmann, in der Wohnung neben unserer Klasse liegt eine Kackwurst, mitten in der Dusche!“ – Herr Lohmann stutzte. Er hatte offenbar keine Lust, sich die Kackwurst näher anzusehen. – „Wir kümmern uns morgen darum“, meinte er schließlich und führte seine Unterhaltung mit der Mutter fort.
Am nächsten Morgen waren wir aufgeregt, wir hatten schon allen anderen von dem Erlebnis des Vortages erzählt. Und so fragte sich jeder, was Herr Lohmann wegen der Wurst machen würde. Er aber betrat den Raum und sagte lediglich: „Wir schreiben heute wie angekündigt eine Mathematikarbeit. Wer möchte die Arbeitshefte verteilen?“ Wir sahen uns ratlos an: Er hatte das Ereignis offenbar völlig vergessen! Schließlich meldete ich mich: „Herr Lohmann, was ist denn mit der Kackwurst?“ Herr Lohmann setzte das gleiche missmutige Gesicht auf, das er schon am Vortag gezeigt hatte und überlegte wieder eine kurze Weile. Dann sagte er: „Wer macht das weg?“
Einige Sekunden herrschte Stille im Klassenraum. Verstohlen sahen wir uns an. Die Aussicht, die Mathematikarbeit nicht mitschreiben zu müssen, war verlockend, aber der Preis war mir zu hoch, denn mit Schrecken hatte ich das Bild der Wurst vor Augen.
Plötzlich hörte man ein paar Tischreihen weiter ein „Ich!“. Gemeldet hatte sich Andreas, den wir alle nur „Pillut“ nannten. Pillut saß am Rand des Klassenraums. Seine blonden, strähnigen Haare waren lang, was damals bei einem Jungen selten war. Das kam daher, weil seine Eltern sich nicht darum kümmerten, ihrem Kind die Haare zu schneiden. Auch seine Kleidung wurde selten gewaschen. Sie hatte graue Flecken und roch seltsam. Dennoch mochten wir ihn, denn er war ein sanfter und hilfsbereiter Junge. Pillut hatte, soweit ich mich erinnern konnte, in Mathe immer eine 6 geschrieben.
Herr Lohmann nickte nur in seine Richtung und so stand er auf und verließ den Raum. Wir beugten uns über die Mathearbeit, dachten aber immer wieder an Pillut und fragten uns, wie er mit der Kackwurst fertig werden würde.
Er blieb weg bis zum Ende der Stunde, erst kurz vor dem Klingeln betrat er wieder den Raum und setzte sich still auf seinen Platz. Wir gaben die Mathearbeiten ab. Pillut blieb auf seinem Stuhl sitzen. Er blickte vor sich auf den Tisch und sagte nichts. Und so wagten auch wir nicht zu fragen, wie er diese Stunde verbracht hatte. Selbst Herr Lohmann sprach ihn nicht an.
Schon am nächsten Tag erhielten wir die bewerteten Mathearbeiten zurück.
Dieses eine Mal bekam Pillut keine 6.

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