Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Vera Neef über den Versuch, durch Unmündigkeit
zu mündigen Bürgern zu erziehen
Das
Wichtigste, was uns die Schule lehrt, ist das kritische Denken und also der
Zweifel. Man lässt uns zweifeln an der Richtigkeit einer Übersetzung oder einer
Definition, an der Interpretation eines Textes, Liedes oder Bildes, zweifeln an
der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnis, ja zweifeln an der
Erkenntnis selbst, und man lässt uns sogar an unserer eigenen Existenz
zweifeln. Es gibt nur eine Sache, an der man uns niemals zu zweifeln lehrt: die
Schule selbst. Zugegeben, man lässt uns verschiedene Schulformen und
pädagogische Konzepte diskutieren und die gegenwärtige Schulform kritisieren.
Was aber als unumstößliche Prämisse niemals einer kritischen, zweifelnden
Betrachtung unterzogen wird, ist der Zweck der Schule selbst. Dabei weiß ich um
das fast einmalige Privileg, eine so gute und allumfassende Schulbildung
genießen zu dürfen, was auch in dieser Stadt keineswegs eine
Selbstverständlichkeit ist.
Doch
was ist es, das die Schule so unumgänglich macht? Fakt ist, wir betreten sie
als Kinder, und wenn wir sie zwölf Jahre später verlassen, sind wir erwachsen
und können uns kaum noch an die Zeit vor der Schule erinnern. Man könnte sagen,
wir sind wie vollkommen neue Menschen. Was aber ist der Zweck von Schule, trotz
oder gerade wegen dieser Metamorphose? Es kann sich hierbei nicht um gelernte
Fakten handeln, denn kein Mensch kann alles Wissen, mit dem man im Laufe von
zwölf Jahren regelrecht bombardiert wird, ein Leben lang behalten. Vielmehr geht
es, neben ein paar Grundfertigkeiten, die schon in den ersten Jahren vermittelt
werden, um Methoden, Techniken und allgemeine Konzepte, aber vor allem, und das
kann niemand bestreiten, um Werte und Ideale. Dabei ist mein Anliegen hier
nicht, die Falschheit besagter Werte und Ideale herauszustellen; schließlich
haben verschiedene Diktaturen eindrucksvoll bewiesen, dass man Schüler
praktisch alle Werte und Ideale glauben lassen kann, mit dem einen Unterschied,
dass man uns hier und heute erlaubt an den gelernten Idealen zu zweifeln, ja
uns explizit dazu auffordert, sie kritisch zu betrachten, was zur Folge hat,
dass wir sie nur mit einer noch größeren Selbstverständlichkeit für wahr und
richtig halten.
Die
Schule soll, so sagt man uns auf Nachfrage, das Tor zur Welt darstellen, die
Eintrittskarte zu Studium und Beruf bilden. In meinem Fall ist das wohl
wörtlich zu verstehen, schließlich ist das Abitur die Eintrittskarte zum
Studium, ohne das man dort nicht zugelassen wird. Wie aber bereitet uns die
Schule tatsächlich auf unser zukünftiges Leben vor? Wie bereits erwähnt, sind
die wichtigsten Dinge, die wir neben der Fähigkeit zum kategorischen Zweifel
und also zum kritischen Denken lernen, Werte und Ideale. Diese sind natürlich
die Ideale der französischen Revolution, der Aufklärung, die Werte der
Moralität und des moralischen Handelns und so viele mehr. Kurzum, man lehrt uns
ein umfassendes bürgerliches Wertesystem.
Doch
wo sind diese Werte und Ideale in der Gesellschaft, in der wir sie ja so
dringend brauchen? Wo sind die Ideale der französischen Revolution: Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit? Indem man uns in der Schule zwölf Jahre lang wichtige
Freiheiten verwehrt, uns kaum Mitbestimmungsrecht bei der Themenwahl einräumt,
die Fächerwahl stark eingrenzt, ein einheitliches Lerntempo vorschreibt und uns
dennoch unter ständigen Leistungsdruck setzt, uns sozusagen durch Unmündigkeit
versucht, zu mündigen Bürgern zu erziehen, sollen wir in einer freien
Gesellschaft bestehen? Wobei die Freiheit der Gesellschaft ein relativ
begrenztes und selektives Phänomen ist. Allein in Bezug auf die Reisefreiheit
gilt es zu sagen, dass mehr als zweihundert Jahre nach der französischen
Revolution noch immer Nationalstaaten nach dem Zufallsprinzip des Geburtsortes
darüber entscheiden, wer wohin reisen darf und wer nicht. Ist es Gleichheit,
dass unser regional begrenzter Reichtum und also die Möglichkeit, eine so gute
Schulbildung zu genießen, einzig auf der jahrhundertelangen und stets
fortwährenden Ausbeutung und Unterdrückung ganzer Kontinente basiert? Heißt
Brüderlichkeit nicht, ein Stück vom Kuchen abzugeben? Warum handelt so selten
jemand nach den moralischen Handlungsgrundsätzen, die man uns lehrt? Wo bleibt
der gute Wille, wenn schon nicht als die Auferbietung aller Mittel, so
zumindest als die Auferbietung irgendwelcher Mittel?
So
bleibt am Ende nur die Frage: wozu die Schule? Es kann nicht sein, dass man uns
diese Werte und Ideale in der Hoffnung lehrt, unsere Generation würde, nach
unzähligen vor uns, die unerklärlicherweise gescheitert sind, sie endlich in
die Tat umsetzen. Das wäre zu viel Verantwortung. Es wäre nicht fair, wenn
unsere Elterngeneration, die sie die Lebenserfahrung und Weisheit hat, die sie
den Auftrag hat, uns eine funktionierende Gesellschaft zu hinterlassen, diese
Aufgabe einfach ungelöst an uns weitergäbe. Lehrt man uns diese Werte und
Ideale also nur, damit wir sie glauben, sie für wahr und richtig halten und
dann einfach so weitermachen wie unzählige Generationen vor uns? Oder ist der
Zweck von Schule ganz einfach und banal doch nur die Eintrittskarte ins
Studium, das Abitur? So bleibt mir nichts anderes, als jeden Tag aufs Neue am
Zweck der Schule zu zweifeln. Glücklicherweise löst sich dieses Problem mit dem
Abitur von selbst.
http://xkcd.com/635/
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