Donnerstag, 11. Oktober 2012

Zur Beschneidungsdebatte

Christian Goldapp über die Beschneidung von Jungen aus dem jüdischen und muslimischen Kulturkreis
Am 7. Mai 2012 erklärte das Landgericht Köln die Beschneidung eines muslimischen Jungen durch einen Arzt aus religiösen Gründen für strafbar. Die rechtliche Situation wurde so eingeschätzt, dass die Beschneidung das Kindeswohl derart stark beeinträchtige, sodass die Religions- und die Erziehungsfreiheit der Eltern den Eingriff nicht begründen konnten. Der Arzt ging nur deshalb straffrei aus, weil die rechtliche Situation für ihn zur Tatzeit unklar war.
Das Urteil löste eine öffentliche Diskussion aus, die sich um Religionsfreiheit und Integration drehte. Juden und Muslime waren entsetzt und behaupteten, die erfolgreiche Integration würde gefährdet. Um Religionsverbänden entgegenzukommen, versprach Angela Merkel, dass Deutschland keine „Komikernation“ werden solle und eine schnelle Legalisierung anstrebe. Bestimmt sind auch Schüler des WGs verunsichert, weil ihr Glaube ihnen sagt, Beschneidung sei essenziell, auf der anderen Seite jedoch das Grundgesetz die körperliche Unversehrtheit festlegt. Die Argumentation der Vertreter von Judentum und Islam ist, es gebe kein jüdisches oder muslimisches Leben ohne Beschneidung. Der Konflikt dreier im Grundgesetz verankerten Grundrechte wird hier somit deutlich.
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit steht der Erziehungs- und Religionsfreiheit gegenüber. Die Rechtsprechung hat sich in der letzten Zeit für eine Einschränkung der Erziehungsfreiheit in solchen Fragen entschieden, beispielsweise dürfen auch katholische Schüler nicht vom Sexualkundeunterricht freigestellt werden. Da man aufgrund des politischen Klimas in Deutschland Beschneidungen nicht vollständig verbieten kann, muss eine andere Lösung gefunden werden, die religiöse und soziale Dogmen überwinden muss, sowie eine Selbstbestimmung der betroffenen Jungen ermöglichen muss.
Die Lösung muss meiner Meinung nach sowohl den Standpunkt der Religionsvertreter als auch die rechtliche Situation in Deutschland berücksichtigen, ohne den rechtlichen Rahmen des Grundgesetzes zu verlassen. Alle Religionsgemeinschaften weisen darauf hin, dass ein Verbot der Beschneidung der Integration schadet. Natürlich muss man einen „Beschneidungstourismus“ verhindern, aber dennoch müssen sich für eine erfolgreiche Integration in erster Linie die Migranten anpassen. Die Integration ist daher nicht durch die Beschneidung bedingt, stattdessen ist für eine erfolgreiche Integration wichtig, dass die Beschneidung beschränkt wird.
Die Religionsgemeinschaften behaupten, dass das Kindeswohl davon abhänge, dass die Initiation in die Religion ohne Störung durchgeführt werden könne. Dies ist letztlich eine Verdrehung der Tatsachen. Das Kindeswohl besteht ausschließlich in der körperlichen Unversehrtheit, die auch durch die Ausübung der Religionsfreiheit und des Erziehungsrechts nicht gestört werden darf.
Medizinische Gründe fallen in der Regel nicht ins Gewicht, und manche Mediziner behaupten sogar, eine beschnittene Vorhaut hätte konkrete gesundheitliche Nachteile. Somit wären die Hauptargumente der Religionsgemeinschaften eigentlich widerlegt. Nun bleibt noch, eine Lösung zu finden, die einen Kompromiss darstellt. Zunächst müsste einmal die Mündigkeit des Kindes sichergestellt werden. So könnte eine Beratung durch das Jugendamt ohne Beisein der Eltern ein einigermaßen zuverlässiges Bild von der Meinung des Jungen zeichnen. Weiterhin wurde die Jahrzehnte alte Lehrmeinung, Säuglinge könnten keinen Schmerz empfinden, in den letzten Jahren revidiert. Eine Operation ohne Betäubung ist daher eigentlich nicht hinzunehmen, da dies nachweislich eine Posttraumatische Belastungsstörung hervorrufen kann. Zuletzt ist noch zu nennen, dass die jüdische Forderung, Jungen traditionsgemäß von einem religiösen Beschneider anstatt von einem Arzt beschneiden zu lassen, unhaltbar ist, sowohl im Hinblick auf medizinische Komplikationen als auch auf mangelnde Hygiene. Somit bleibt als mögliche Lösung nur folgendes Gefüge: Jungen werden mit frühestens zwölf Jahren von einem Arzt unter Betäubung beschnitten, nachdem sie ein Gespräch mit dem Jugendamt geführt haben. Eine andere Lösung ist unter Berücksichtigung des rechtlichen Rahmens nicht denkbar. Die politische Kultur in Deutschland darf sich nicht zu einer Kultur der Schuld gegenüber Religion entwickeln.


"Warum ist es in vielen Religionen oft so wichtig, sich an den Geschlechtsorganen der Menschen zu vergreifen?" (Leserbrief von Sigrid Kratschmer, Hohenpeißenberg, Süddeutsche Zeitung Nr. 234, 10.10.2012)

Mittwoch, 10. Oktober 2012

Zweifel oder der Zweck von Schule

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Vera Neef über den Versuch, durch Unmündigkeit zu mündigen Bürgern zu erziehen
Das Wichtigste, was uns die Schule lehrt, ist das kritische Denken und also der Zweifel. Man lässt uns zweifeln an der Richtigkeit einer Übersetzung oder einer Definition, an der Interpretation eines Textes, Liedes oder Bildes, zweifeln an der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erkenntnis, ja zweifeln an der Erkenntnis selbst, und man lässt uns sogar an unserer eigenen Existenz zweifeln. Es gibt nur eine Sache, an der man uns niemals zu zweifeln lehrt: die Schule selbst. Zugegeben, man lässt uns verschiedene Schulformen und pädagogische Konzepte diskutieren und die gegenwärtige Schulform kritisieren. Was aber als unumstößliche Prämisse niemals einer kritischen, zweifelnden Betrachtung unterzogen wird, ist der Zweck der Schule selbst. Dabei weiß ich um das fast einmalige Privileg, eine so gute und allumfassende Schulbildung genießen zu dürfen, was auch in dieser Stadt keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist.
Doch was ist es, das die Schule so unumgänglich macht? Fakt ist, wir betreten sie als Kinder, und wenn wir sie zwölf Jahre später verlassen, sind wir erwachsen und können uns kaum noch an die Zeit vor der Schule erinnern. Man könnte sagen, wir sind wie vollkommen neue Menschen. Was aber ist der Zweck von Schule, trotz oder gerade wegen dieser Metamorphose? Es kann sich hierbei nicht um gelernte Fakten handeln, denn kein Mensch kann alles Wissen, mit dem man im Laufe von zwölf Jahren regelrecht bombardiert wird, ein Leben lang behalten. Vielmehr geht es, neben ein paar Grundfertigkeiten, die schon in den ersten Jahren vermittelt werden, um Methoden, Techniken und allgemeine Konzepte, aber vor allem, und das kann niemand bestreiten, um Werte und Ideale. Dabei ist mein Anliegen hier nicht, die Falschheit besagter Werte und Ideale herauszustellen; schließlich haben verschiedene Diktaturen eindrucksvoll bewiesen, dass man Schüler praktisch alle Werte und Ideale glauben lassen kann, mit dem einen Unterschied, dass man uns hier und heute erlaubt an den gelernten Idealen zu zweifeln, ja uns explizit dazu auffordert, sie kritisch zu betrachten, was zur Folge hat, dass wir sie nur mit einer noch größeren Selbstverständlichkeit für wahr und richtig halten.
Die Schule soll, so sagt man uns auf Nachfrage, das Tor zur Welt darstellen, die Eintrittskarte zu Studium und Beruf bilden. In meinem Fall ist das wohl wörtlich zu verstehen, schließlich ist das Abitur die Eintrittskarte zum Studium, ohne das man dort nicht zugelassen wird. Wie aber bereitet uns die Schule tatsächlich auf unser zukünftiges Leben vor? Wie bereits erwähnt, sind die wichtigsten Dinge, die wir neben der Fähigkeit zum kategorischen Zweifel und also zum kritischen Denken lernen, Werte und Ideale. Diese sind natürlich die Ideale der französischen Revolution, der Aufklärung, die Werte der Moralität und des moralischen Handelns und so viele mehr. Kurzum, man lehrt uns ein umfassendes bürgerliches Wertesystem.
Doch wo sind diese Werte und Ideale in der Gesellschaft, in der wir sie ja so dringend brauchen? Wo sind die Ideale der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit? Indem man uns in der Schule zwölf Jahre lang wichtige Freiheiten verwehrt, uns kaum Mitbestimmungsrecht bei der Themenwahl einräumt, die Fächerwahl stark eingrenzt, ein einheitliches Lerntempo vorschreibt und uns dennoch unter ständigen Leistungsdruck setzt, uns sozusagen durch Unmündigkeit versucht, zu mündigen Bürgern zu erziehen, sollen wir in einer freien Gesellschaft bestehen? Wobei die Freiheit der Gesellschaft ein relativ begrenztes und selektives Phänomen ist. Allein in Bezug auf die Reisefreiheit gilt es zu sagen, dass mehr als zweihundert Jahre nach der französischen Revolution noch immer Nationalstaaten nach dem Zufallsprinzip des Geburtsortes darüber entscheiden, wer wohin reisen darf und wer nicht. Ist es Gleichheit, dass unser regional begrenzter Reichtum und also die Möglichkeit, eine so gute Schulbildung zu genießen, einzig auf der jahrhundertelangen und stets fortwährenden Ausbeutung und Unterdrückung ganzer Kontinente basiert? Heißt Brüderlichkeit nicht, ein Stück vom Kuchen abzugeben? Warum handelt so selten jemand nach den moralischen Handlungsgrundsätzen, die man uns lehrt? Wo bleibt der gute Wille, wenn schon nicht als die Auferbietung aller Mittel, so zumindest als die Auferbietung irgendwelcher Mittel?
So bleibt am Ende nur die Frage: wozu die Schule? Es kann nicht sein, dass man uns diese Werte und Ideale in der Hoffnung lehrt, unsere Generation würde, nach unzähligen vor uns, die unerklärlicherweise gescheitert sind, sie endlich in die Tat umsetzen. Das wäre zu viel Verantwortung. Es wäre nicht fair, wenn unsere Elterngeneration, die sie die Lebenserfahrung und Weisheit hat, die sie den Auftrag hat, uns eine funktionierende Gesellschaft zu hinterlassen, diese Aufgabe einfach ungelöst an uns weitergäbe. Lehrt man uns diese Werte und Ideale also nur, damit wir sie glauben, sie für wahr und richtig halten und dann einfach so weitermachen wie unzählige Generationen vor uns? Oder ist der Zweck von Schule ganz einfach und banal doch nur die Eintrittskarte ins Studium, das Abitur? So bleibt mir nichts anderes, als jeden Tag aufs Neue am Zweck der Schule zu zweifeln. Glücklicherweise löst sich dieses Problem mit dem Abitur von selbst.